11 – Reinhard Sieder (Wien) Sozialpolitische Emphase und erzieherische Gewalt. Wiens Fürsorgeerziehung (1910er–1970er Jahre)

18.07.2017

Keynote
Sozialpolitische Emphase und erzieherische Gewalt. Wiens Fürsorgeerziehung (1910er–1970er Jahre).
Reinhard Sieder (Wien)

Das sozialpolitische Engagement der Sozialdemokratie in Wien in den 1910er, 1920er und 1930er Jahren findet neue Objekte der Sozial- und Fürsorgepolitik: alleinstehenden Mütter und die Kinder der sozioökonomisch Schwachen. Aus der Auseinandersetzung mit ihnen entsteht die moderne öffentlich-städtische „Familienfürsorge“. Gerahmt und orientiert wird der Vorgang seit seinen Anfängen durch einen Meta-Diskurs: die Rassenhygiene. Ledige Frauen und uneheliche Kinder interessieren vor allem im Hinblick auf den „Volkskörper“. Eine Reihe von älteren und jüngeren Theorien tragen zur Anleitung der praktischen Fürsorge bei: die psychiatrische Theorie der progressiven Degeneration, die Psychopathologie Kochs, die Charakterlehre Kretschmers, eine frühe Milieutheorie. Diese Theorien legitimieren den Umgang der seit 1912 nach und nach eingerichteten Fürsorgeämter mit Eltern und Kindern und insbesondere die Kindesabnahme und Überstellung der Kinder in die sog. Gemeindepflege. In den aus der Monarchie übernommenen und in neu errichteten städtischen, kirchlichen und privaten Erziehungs- und Kinderheimen setzt sich eine Gewalterziehung fort, die dem offiziell verkündeten sozialdemokratischen Programm einer kompensatorischen „Nacherziehung“ zuwiderläuft. Mehrere Generationen von Kindern und Jugendlichen erleiden in den Institutionen der Fürsorgeerziehung bis herauf in die 1970er Jahre lebenslang wirkende Schäden und Behinderungen. Wissenschaften sind daran maßgeblich beteiligt: Heilpädagogische Ärzt*innen der Universitäts-Kinderklinik, Psycholog*innen der Universität Wien und Psycholog*innen des Wiener Jugendamtes führen Tests an Kindern und Jugendlichen durch, die vom Jugendamt an die Kinderübernahmestelle oder gleich in ein Erziehungsheim überstellt worden sind. Sie legitimieren die Abnahme von Kindern und ihre Überstellung in Erziehungsheime oder zu Pflegeeltern. Hingegen unternehmen sie keinen ernsthaften Versuch, die Praxis der Heimerziehung und der Pflegeeltern zu kontrollieren. Aus der Vermischung von christlich-pastoralen und rassenhygienischen Ideen formt sich die Leitidee, Armut und Kinderelend würden von Eltern und Kindern durch Sittenlosigkeit, vererbte Mängel und mangelnde Disziplin selber verschuldet. Dies öffnet den Weg für die ebenso rassenhygienisch begründeten medizinischen Experimente und Morde an Kindern und Jugendlichen im Gesundheits- und Fürsorgesystem des NS-Staates. In der Zweiten Republik werden die Strukturen der Fürsorgeerziehung baulich, ideologisch und praktisch reproduziert. In den Jugendämtern und in den Erziehungsheimen werden nach wenigen Monaten in großer Zahl leitende Beamte, Psycholog*innen, Fürsorgerinnen und Erzieher*innen aus dem NS-Staat wiedereingestellt. Ihre Erziehungsideologie und ihr Menschenbild verändern sich meist nur semantisch. Erst um 1970 entsteht parallel zur Kritik an der öffentlichen Psychiatrie auch eine Kritik der Fürsorgeerziehung. Sie führt in eine lange Reformphase, die mit der Schließung fast aller Erziehungsheime der Stadt und dem Aufbau einer neuen dezentralen Struktur um das Jahr 2000 vorläufig endet.

Moderation: Michaela Ralser, Innsbruck

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Medikalisierte Kindheiten – Die neue Sorge um das Kind vom ausgehenden 19. bis ins späte 20. Jahrhundert

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